Werteorientierte Unternehmensführung als KPI in der Unternehmenskommunikation
(Keine?) Zeit für Werte
Werteorientierung hat es nicht leicht. Die Gefahr, je nach Wert in ein wie auch immer geartetes „Washing“ zu geraten, ist groß und kann teuer werden. Und der Begriff Purpose, der lange als hip galt und auf dessen Zug viele Unternehmen – nicht selten ohne gründliche Vorbereitung – aufsprangen, gilt mittlerweile in vielen Kreisen als verheizt und wird von bedeutenden Akteuren der Wirtschaft auch inhaltlich offen angezweifelt.
Der Chef des Wirtschaftsverbandes BGA ließ sich dementsprechend im Herbst des vergangenen Jahres zu einem Zitat in Richtung eines rein wertebasierten Gesetzes hinreißen, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: „Die größte Gefahr für den freien Handel ist derzeit nicht der russische Krieg gegen die Ukraine, sondern das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz“
Ja, Werte tragen Risiken. Fast jede nicht wirtschaftlich basierte werteorientierte Unternehmensführung steht auf den ersten Blick in einem potenziellen Konflikt zum wirtschaftlichen Ertrag. Zieht man sein Geschäft aus Russland ab, kostet das Umsatz und Arbeitsplätze. Wenn man auf Nachhaltigkeit setzt, erfordert das mitunter enorme initiale Investitionen und einen ungewissen ROI. Agiert man gemeinwohlorientiert, sinkt erstmal die Rendite. Kontrolliert oder wechselt man gar seine Lieferanten, weil diese gegen das Lieferkettengesetz verstoßen, steigert das im Zweifel die Kosten und bringt viel administrative Arbeit mit sich. Die Liste lässt sich fortführen.
Doch diese Sicht ist eine kurzsichtige: Was ein Unternehmen sein will, wofür es sich stark machen will und welchen Beitrag es zu gesellschaftlichen Debatten in Bezug zu seinem Wertekanon konkret und stringent leistet, wird den langfristigen Erfolg in vielen Fällen maßgeblich mitbestimmen. Nicht in allen Fällen. Aber in vielen. Dafür sprechen zahlreiche Studien zum Konsumverhalten, das sich in den letzten Jahrzehnten von Generation zu Generation weiter in diese Richtung verschoben hat, und selbst Investoren bewerten Unternehmen mittlerweile auch nach solchen Aspekten. Ein leuchtendes Beispiel dafür ist Patagonia.
Nun muss ein Wertekanon eines wirtschaftlich agierenden Unternehmens nicht zwingend und immer rein moralischer Natur sein. Es geht zunächst darum, auch wandelnde Bedürfnisse seiner Personas zu befriedigen und sein eigenes Agieren dazu in ein gesellschaftlich relevantes Verhältnis zu setzen. Das macht es nicht weniger relevant. Es geht letztlich um (Unternehmens-) Identität, um Wahrhaftigkeit, um einen Wertekompass des eigenen Denkens und Handelns. Langfristig wird kein Mensch erfolgreich (oder gar glücklich), der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist. Wieso sollte es Unternehmen anders gehen?
Wie Werte Marken stark machen
Hier setzt das Buch „Wie Werte Marken stark machen“ von Nina Rieke-Dalaman und Hans-Christian Schwingen ein. Die beiden Marken-Profis haben ein Leitsystem für werteorientierte Markenführung entwickelt und dieses auf weniger als 100 Seiten zu Papier gebracht. Mich hat dieses Buch in mehrfacher Hinsicht begeistert: Das Thema Werte ist relevant und wird dabei nicht belehrend behandelt. Das Leitsystem ist praxisorientiert und weist interessierten Unternehmen einen nachvollziehbaren Weg, von der Orientierung über die Aktivierung bis hin zum Erleben. Und es ist konzeptionell klar aufgebaut und visualisiert. Nina und Hans-Christian sprechen in dem Buch von Marken. Ich würde Marken in diesem Zusammenhang mit Unternehmen gleichsetzen. Daher nutze ich diesen Begriff im Folgenden auch immer wieder statt Marken.
Das Leitsystem sieht (stark verkürzt) folgende Stufen vor:
Gestaltungswille und Typisierung
Am Anfang sollte sich ein Unternehmen die Frage stellen, ob es den Weg gehen will, seine Werteorientierung zu evaluieren und sich als Wertetyp einzuordnen. Liegen Werte in der DNA des Unternehmens? Dann kann das Leitsystem als Bestätigung dienen. Soll ein grundlegender Wandel eingeleitet werden? Das Leitsystem kann dann als Zündung und Kompass dienen. Oder will das Unternehmen schnelle Purpose-Erfolge ohne nachhaltige Struktur? Dann lieber die Finger vom Leitsystem lassen.
Dekonstruktion entlang des Werte-Canvas
Nina und Hans-Christian nennen es Self-Assessment. Die zentrale Frage lautet: Wofür brennt mein Unternehmen? Hierzu wird ein vierdimensionales Schema angelegt, dass sich in jeder Dimension mit den Wertevorstellungen befasst: Der Mensch (also: Kunde), die Gesellschaft, der Wettbewerb sowie das eigene Unternehmen. Entlang dieses Canvas geht es nun ans Assessment, in dem man jeder Dimension eine unbestimmte Zahl an (gerne kritischen) Fragen zuordnet. Also etwa:
- Mensch: Worauf legen unsere Kunden wert? Was schätzen unsere Kunden an uns?
- Gesellschaft: Welche Werte der Gesellschaft sind Business-relevant für uns? Auf welche Fragen haben wir (bereits/noch keine) Antworten?
- Unternehmen: Was hat uns erfolgreich gemacht? Was wollen wir in Zukunft erreichen?
- Wettbewerb: Was machen wir anders als andere? Gibt es Impulsgeber im Markt?
Zuordnung Werte-Matrix und Werte-Matching
Die Antworten auf diese Fragen werden nun mittels Textanalyse inkl. möglicher Gewichtung einer festgelegten Werte-Matrix zugeordnet, die gut 80 Werte umfasst, die wiederum insgesamt 10 Oberbegriffen zugeordnet sind. Zwei Beispiele: Gemeinsinn als Oberbegriff (Verantwortung, Empathie, Hilfsbereitschaft als Spezifikations-Begriffe) oder Abenteuer (Mut, Inspiration,…).
Und daraus ergibt sich ein Werte-Matching entlang der vier Dimensionen. Je stärke das Werte-Matching, desto relevanter wird der Wert.
Verdichtung und Vertextung
Man kommt so zu x verdichteten Werten, zu denen man sich anschließend eine Story überlegen kann, die wiederum zu einem Claim, einer Mission vertextet werden kann.
Die Autoren nehmen das Beispiel der Deutschen Telekom zur Hand. Da steht dann nach der Logik des Leitsystems am Ende der Claim „Wir geben uns erst zufrieden, wenn alle an den Möglichkeiten der Digitalisierung teilhaben können“, der auf die Werte Engagement, Gerechtigkeit, Verbindung, Optimismus, Gemeinschaft und Zugehörigkeit einzahlt.
Bei MIC war der Weg zum Claim dahingehend übrigens: Leistung, Engagement, Nachhaltigkeit, Ordnung, Kooperation, Vertrauen, Fleiß => Getting things done!
Erfolgskontrollen, Checklisten, Tipps, Archetypen und Wertemanifeste
Hierbei betonen die Autoren Markenmonitoring, wirtschaftliche Erfolgsmessungen sowie den Identifikationsgrad bei den Mitarbeitern. Dieses Kapitel bleibt allerdings arg an der Oberfläche für einen Mess-Junkie wie mich.
Das Buch hat aber noch mehr zu bieten. Praxisnahe Checklisten und Tipps zur Umsetzung, Archetypen-Sammlung für diverse Werte, der (subjektive) Anwendungsfall Telekom in den einzelnen Schritten sowie einige Beispiele von Markenmanifesten bekannter Marken, die alle Ergebnis eines solchen Leitsystem hätten sein können.
Werte als KPI-Messung in der Media Intelligence
Als Markenthema definiert bieten sich Untersuchungen und Erfolgskontrollen auf Werteebene zunächst im Bereich Marketing oder Strategie an. Oft bleibt es dabei aber bei grundsätzlichen Marktforschungs-Projekten oder allgemeinen Social Media Analysen.
Ich nenne zwei Beispiele:
Der „Purpose Readiness Index“ von Globeone untersuchte etwa 2022 die Glaubwürdigkeit deutscher Unternehmen anhand einer breit angelegten Umfrage. Eine interessante Untersuchung, die Ihren Index u.a. aus Fragen zu Authentizität, Nachhaltigkeit, Profitorientierung und Zukunftsfähigkeit zusammensetze. Allerdings wurden alle Unternehmen dabei dem gleichen Setting unterzogen, was nicht unbedingt zielführend ist für die Einschätzung, welche von den Unternehmen selbst gesetzten Werte wie bei den Konsumenten wirken.
Der „Werteindex“ von Bonsai Research dagegen setzt auf Social Media Listening, fokussiert sich allerdings auf die gesellschaftliche Ebene, in dem er eine Wertematrix von einem guten Dutzend Werten kontinuierlich auf die (Social) mediale Resonanz hin untersucht. Die Wertematrix unterscheidet sich in vom Leitsystem von Rieke-Dalaman und Schwingen, hat aber schon eine große Tradition (es gibt ihn seit 2009) und somit einen besonderen Wert, da sie gesellschaftliche Entwicklungen in der Werteverschiebung aufzeigt.
Ich plädiere hier für ein Modell entlang des Leitsystems von Rieke-Dalaman und Schwingen. Und ich verorte es in der Unternehmenskommunikation. Denn wo sonst wird Strategie in Worte gebracht und damit zum Leben erweckt? Ein solches Modell haben wir (mein ehemaliger Kollege Sebastian Peter sei hier besonders erwähnt) gemeinsam mit den Buch-Autoren zu meiner Zeit bei CURE Intelligence Anfang 2022 entwickelt. Es entstand leider genau zur Zeitenwende, und wurde u.a. deswegen sowie teilweise daraus resultierenden anderen Prioritäten auf Kunden- und CURE-Seite auf Wiedervorlage gesetzt.
Das Modell sieht neben klassischer Intelligence-Software auch Data Science Methoden sowie KI-Technologie vor, und kann somit
- ähnlich wie ein klassisches Topic-/Issue-Monitoring aufgesetzt werden
- als Cockpit-Lösung in Echtzeit oder im Rahmen einer Medienresonanzanalyse abgebildet werden
- Unternehmen sowohl begleitend beim Start des „Projektes Werteorientierung“ (etwa durch eine Nullmessung zu allen 80 Werten) als auch nach der Positionierung als Erfolgskontrolle (für das ermittelte Werte-Matching) eingesetzt werden
- die eigene Kommunikation der Corporate Publisher (vom CEO bis zum Kundenberater in den Social Media) auf das Werte-Matching hin untersuchen, um zu prüfen, ob das Manifest gelebt wird
- die Reaktion der Menschen auf die Eigenkommunikation hin messen, um die Wirkung auf dieser Ebene hin zu tracken
- eine ALL Media Stakeholder-Kommunikation über das Unternehmen gegen die Eigenkommunikation legen, um die Innen- und Außenwahrnehmung zu überprüfen
- all‘ dies auch auf die Peer Group anwenden, um den Benchmark-Vergleich zu haben
- das Werte-Matching übergeordnet oder individuell mit Zielwerten versehen und die Entwicklung so laufend tracken
- durch Handlungsempfehlungen und Action Points flankiert werden
Unternehmen mit Werteorientierung hätten in diesem Modell eine substanzielle Ergänzung ihrer klassischen KPI-Messung. Ja, sie könnten sogar die Ergebnisse aus der Werte-Analyse zusätzlich auf die anderen KPIs (etwa Reputation) einzahlen lassen oder klassische Themendimensionen mit diesen verknüpfen, um den Reputationsanteil einer guten Wertekommunikation in den Dimensionen zu belegen. Die Möglichkeiten sind enorm, bis hin zu einer monetären Messung des „Value Values“ analog zum Brand Value.
Aber auch Dienstleistern bietet ein solches Modell Chancen, sich zu platzieren. Wie wäre es, ein solches Modell, ganzheitlich oder auf wenige „Mega-Werte“ nach Bonsai reduziert auf den DAX oder einzelne Branchen anzuwenden und dabei mit den Bonsai Research Ergebnissen auf gesellschaftlicher Ebene zu verknüpfen? Die Ergebnisse könnte man quartalsweise in den Social Media, Fachmedien oder sogar überregionalen Tageszeitungen publizieren. Ich bin überzeugt: Eine solche Auswertung hat das Potenzial, ein Zeichen zu setzen, eine relevante (neue) Zielgruppe anzusprechen, und damit die Sichtbarkeit und den Erfolg einer Media Intelligence Company zu erhöhen.
Werte bleiben aller Unkenrufe zum Trotz nicht nur relevant. Sie werden relevanter. Nach innen (Mitarbeiter-Identifikation) und nach außen (Kunden-Identifikation). Und die Unternehmenskommunikation ist die Unit, die diese Werte in Botschaften übersetzt. Es wird Zeit, dass Werte auch in der Kommunikationsmessung Einzug finden.